Wir waren umgezogen, von Krumme
Lanke nach Schlachtensee. Unsere Wohnung lag im oberen Stock einer
Gründerzeitvilla, deren Erdgeschoss und Souterrain von den Hauseigentümern
bewohnt wurden. Fräulein S. und Herr L. waren ein seltsames Paar. Sie lebten in
wilder Ehe miteinander (für damalige Moralvorstellungen unerhört), gingen fast
nie aus und empfingen auch nur selten Besuch. Niemand begriff, warum sie
überhaupt zusammenblieben, denn sie stritten sich fast ständig, und wir bekamen
oben alles mit. Fräulein S. war eigentlich ganz nett, aber vor Herrn L. hatte
ich eine Heidenangst.
An einen Vorfall kann ich mich noch genau erinnern,
obwohl ich damals erst vier Jahre alt war: Trotz strengsten Verbotes war ich
mit Pit in den völlig verwilderten Garten gegangen und hatte dort ein bisschen
herumgestöbert. Natürlich fand er alles hochinteressant. Er hatte wohl ein
Mauseloch entdeckt, denn er buddelte auf einmal wie verrückt und verschwand
beinahe völlig in dem Loch. Nur sein kleines Hinterteil ragte noch heraus. In dem
Moment tauchte urplötzlich Herr L. auf und fing an, wie ein Wahnsinniger zu
toben. Er hielt eine Schaufel in der Hand und drosch auf den armen Hund ein.
Ich muss vor Angst geschrien haben wie am Spieß. Zum Glück hatte meine Mutter
oben das Küchenfenster offenstehen und konnte alles mit anhören. Sie kam in den
Garten gerannt, stürzte sich auf Herrn L. und riss ihm die Schaufel aus der
Hand. Von einer Sekunde zur anderen war er wie ausgewechselt, die
Liebenswürdigkeit selbst, so als hätte jemand in seinem Kopf einen Schalter
umgelegt. Meiner Mutter gegenüber verhielt er sich sowieso immer äußerst
zuvorkommend, er schien tatsächlich Respekt vor ihr zu haben. Außerdem war sie
damals eine bildschöne junge Frau, was vermutlich auch eine Rolle spielte.
Abends gab es noch eine heftige Auseinandersetzung zwischen meinem Vater und
Herrn L., und von da an lebten wir mehr oder weniger in friedlicher Koexistenz,
bis wir zwei Jahre später auszogen. In den Garten haben Pit und ich allerdings
nie wieder eine Pfote oder einen Fuß gesetzt.
Kein Wunder, dass der Lütte
sein Großfrauchen schmerzlich vermisste und Heimweh nach seinem früheren
Zuhause hatte. Er liebte uns zwar, aber meine Omi vergötterte er - genau wie
ich. Immer wieder büxte er aus und fand mit schlafwandlerischer Sicherheit den
Weg in die W…straße, wo er dann völlig erschöpft ankam. Von Haus zu Haus waren
es beinahe vier Kilometer; mit dem Auto ein Katzensprung, aber für den kleinen
Kerl mit seinen kurzen Beinchen der reinste Marathon. Anscheinend hatte er
dabei auch einen guten Schutzengel, denn obwohl er einige belebte Straßen
passieren musste, ist ihm nie etwas zugestoßen. Natürlich herrschte damals noch
weitaus weniger Verkehr, und diejenigen, die schon ein Auto besaßen, fuhren
langsamer und rücksichtsvoller, als es heutzutage viele tun. Gefährlich war es
trotzdem, besonders für einen so winzigen Hund. Meiner Omi brach es jedes Mal
fast das Herz, wenn wir ihn wieder abholten oder sie ihn uns zurückbringen
musste.